Ich bin kein Freund von Lernspielen, da sie in meinen Augen häufig den Spielspaß dem Lernzweck unterordnen. Interessanter finde ich unterhaltsame Spiele, die gleichsam nebenbei etwas lehren können. Als Deutschlehrer an einem ostwestfälischen Gymnasium hat in den letzten Wochen das Spiel "Stories!" meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hier haben wir ein kommunikatives Familienspiel, das sich auch ideal im Deutschunterricht insbesondere der weiterführenden Schulen einsetzen ließe, ohne den pädagogischen Zeigefinger bemühen zu müssen. Warum aber eignet sich Stories! auch für unterrichtliche Zwecke?
Die Lehrpläne für die Jahrgangsstufen 5 und 6 in allen Schulformen enthalten Vorgaben zum Thema "Erzählen", in allen Schulbüchern für dieses Alter ist es obligatorisch vertreten. In der Deutschdidaktik stellt das mündliche und schriftliche Erzählen seit Jahrzehnten einen Klassiker dar, der nun dem aktuellen didaktischen Trend folgend "kompetenzorientiert" neu durchbuchstabiert wird. Im Unterschied zu früheren Unterrichtskonzepten, die vornehmlich von den Lerninhalten ausgingen ("Input"), steht bei der "Kompetenzorientierung" das Lernergebnis ("Output") im Fokus. Es geht darum, dass die Schülerinnen und Schüler durch Unterricht dazu befähigt werden, in bestimmten lebensweltlich relevanten "Anforderungssituationen" ihr erworbenes Wissen und Können anwenden zu können. Der Kernlehrplan Deutsch in Nordrhein-Westfalen umreißt z. B. folgende Kompetenzen, die die Lernenden in den Klassen 5 und 6 erwerben sollen: Im Bereich "Sprechen" sollen die Schülerinnen und Schüler "eigene Erlebnisse und Erfahrungen sowie Geschichten geordnet, anschaulich und lebendig" erzählen können. Diese Fähigkeit kommt auch dem schriftlichen Erzählen zugute. Auf dem Feld des "Schreibens" wird nämlich eine Schülerin/ein Schüler dann kompetent genannt, wenn sie/er "Erlebnisse oder eigene Begebenheiten frei oder nach Vorlagen anschaulich und lebendig" erzählen und dabei "in Ansätzen Erzähltechniken" anwenden kann. Es versteht sich fast von selbst, dass freies Erzählen im Unterricht darüber hinaus auch die kommunikative Kompetenz stärkt, da man anderen etwas mitteilt und das Erzählte darüber hinaus durch Mimik und Gestik vermittelt. Wenn man dabei von eigenen Erfahrungen ausgeht, wird Schule darüber hinaus konkret bedeutsam für den Einzelnen. Wir "berichten" in der Regel nicht sachlich von dem, was uns widerfahren ist, sondern wir "erzählen", damit unsere Zuhörer die Bedeutung und Wirkung der Begebenheiten begreifen können. Wenn alle gebannt lauschen, sind das Können des Erzählers und die Qualität der Geschichte bestätigt.
"Stories!" bietet eine große Menge von Anlässen für das freie Erzählen. Die Karten enthalten Vorgaben, die die Schülerinnen und Schüler aus dem Schatz ihrer eigenen Erfahrungen mit Leben erfüllen können. Der Wiedererkennungswert für gleichaltrige Mitspieler ist damit zumeist sichergestellt. Zudem regt das Spiel zum Austausch darüber an, was wir bereits über ein Erzählthema wissen bzw. was wir bei unserem Publikum an Vorwissen erwarten können. Darüber hinaus werden sich die jungen Erzähler aber auch typischer Versatzstücke von Urlaubs-, Abenteuer- oder anderen Geschichten bedienen. Die Zuhörer erhalten die Gelegenheit, diese Versatzstücke zu antizipieren, indem sie im Vorfeld Wörter/Begriffe notieren, die in der Geschichte vorkommen könnten. Nebenbei wird ebenfalls das "aktive Zuhören" eingeübt, da die Nicht-Erzähler genau registrieren wollen, was erzählt wird. In einer anschließenden Reflexion mit der gesamten Klasse lässt sich schön aufzeigen, wie spannende und interessante Geschichten funktionieren und dass es unterschiedliche Formen von Erzählungen gibt, die eigene Muster aufweisen. Diese Muster können eher stillen und zurückhaltenden Kindern helfen, die mit dieser Unterstützung Erfolgserlebnisse haben und so beim Sprechen vor einer Gruppe sicherer werden.
Ich kann mir gut vorstellen, "Stories!" im Deutschunterricht einzusetzen. Dazu wird nur ein Exemplar des Spiels benötigt, da genügend Geschichtskarten und Notizblätter enthalten sind (ggf. müssen weitere Karten für die Zwischenfragen und Punktetableaus gebastelt werden). Für die konkrete Durchführung empfiehlt sich die Aufteilung der Lerngruppe in mehrere Kleingruppen, die bunt gemischt sein sollten (Mädchen und Jungen, keine festen Cliquen), damit es beim Spiel auch zu Aha-Erlebnissen und witzig-unerwarteten Verläufen kommt. Die Regeln sollten von der Lehrperson mithilfe einer an die Wand projizierte Folie für alle vorgestellt werden, eine Beispielrunde mit der Lehrerin/dem Lehrer kann letzte Unklarheiten beseitigen. Eventuell sollte man mehr als 1 Minute Zeit für den Vortrag einer Geschichte geben, damit die Freude am Erzählen nicht getrübt wird. Um die Bedeutung des mündlichen Erzählens zu unterstreichen, sollte das Spiel nicht als bloßer Lückenfüller oder gar als Bonbon vor den Ferien eingesetzt werden. Gerade als Auftakt oder als ein zentraler Pfeiler in einem Unterrichtsvorhaben wirkt "Stories!" sicherlich nicht nur ungemein motivierend, sondern auch lehrreich. Und dann ist es auch denkbar, das Spiel bei älteren Schülerinnen und Schüler wieder hervorzuholen, wenn es um die intensive Auseinandersetzung mit dem literarischen Erzählen und den Erwartungen von Lesern sowie um die Vertiefung kommunikativer Kompetenzen geht. (thb)