Chicago ExpressChicago Express

Oktober 2008. Ganz Deutschland steht unter dem Eindruck der Finanzkrise. Ganz Deutsch-land erfasst Untergangsstimmung, wenn es nur die Worte "Börsennotierung" und "Aktienin-dex" hört. Ganz Deutschland? Nein! Eine Gruppe unbeugsamer Financiers hört nicht auf, munter in Aktien investieren - ohne Angst vor Verlusten allerdings, denn die Wertpapiere sind bloß fiktiv. Seit Oktober 2008 nämlich kann man sich in dem Spiel "Chicago Express" ganz ohne Risiko unter die Investoren begeben und im Eisenbahngeschäft der USA des 19. Jahrhunderts kräftig mitmischen, und dies ausgerechnet in der Wirtschaftsregion, die heute so unter Druck geraten ist.

Spielplan Mit ihrem neuen großen Spiel haben Queen Games "Wabash Cannonball" von Harry Wu, das ein Jahr zuvor in einem amerikanischen Kleinverlag mit geringer Stückzahl veröffentlicht wurde, redaktionell überarbeitet und neu herausgebracht. Schachtel und Ausstattung besitzen nicht zuletzt wegen der hervorragenden Gestaltung von Michael Menzel hohen Aufforde-rungscharakter. So versuchen wir denn, Eisenbahnbarone zu werden, und investieren unser Geld in die Eisenbahngesellschaften Nordamerikas, um das Streckennetz Richtung Westen auszudehnen, die am Netz angeschlossenen Städte am industriellen Fortschritt teilhaben zu lassen und natürlich um vom wachsenden Wert der Linien, an denen wir beteiligt sind, zu profitieren. Wie im richtigen Wirtschaftsleben gewinnt derjenige, der am Ende das meiste Geld gemacht hat.

Das Spielfeld zeigt den Osten der USA mit Chicago als lukrativen Zielpunkt am oberen lin-ken Rand. Fünf historische Eisenbahnlinien sind mit Aktien und Loks vertreten, darunter etwa die "Pennsylvania Railroad Company" (PRR) und natürlich die "Wabash", die jedoch - wenn überhaupt - erst im letzten Drittel des Spiels eröffnet wird. Mit Ausnahme der schwarzen "Wabash" beginnen alle Gesellschaften auf Startfeldern an der Küste. Vor ihnen liegen Land-schaftsfelder mit unterschiedlichen Funktionen: Auf Ebenen können eine oder mehrere Un-ternehmen relativ günstig ihre Strecken ausbauen, auf den teureren Berg- und Waldfeldern ist dies nur jeweils einer Linie gestattet. Berg- und Stadtfelder anzuschließen erhöht das Ein-kommen des jeweiligen Unternehmens, das außerdem durch gezielte Entwicklung dieser Fel-der anwächst. Die drei Industriestädte Detroit, Wheeling und Pittsburgh können sogar mehr-mals entwickelt werden und werden dementsprechend attraktiver.

In einer Auftaktauktion, in der jeweils eine Aktie aller Linien außer der "Wabash" unter die Spieler

gebracht wird, werden die Gesellschaften mit einem Grundstock an Kapital ausgestat-tet. Dieses wird strikt getrennt von Bank und persönlichem Geldvorrat auf einzelnen Tableaus abgelegt. Auf ihnen befinden sich auch die Loks für den Streckenfortschritt und die noch un-verkauften Aktien, jeweils in unterschiedlicher Anzahl pro Gesellschaft.

Aktie Wer das erste PRR-Wertpapier erwerben konnte, ist Startspieler. Ihm und seinen Konkurren-ten steht pro Zug eine von drei Aktionen zur Verfügung: die Versteigerung einer beliebigen Aktie, der Ausbau einer Eisenbahnstrecke, an der er beteiligt ist und für den das Kapital der betroffenen Linie verwendet wird, oder die Entwicklung eines Spielfeldes, das mit mindestens einer Lok besetzt ist. Je nach gewählter Aktion wird ein Zeiger auf den drei Anzeigen des Spielplans ein Feld nach rechts gedreht. Steht ein Zeiger auf Rot, kann man diese Zugmög-lichkeit nicht mehr nutzen. Es ist möglich, eine Aktion zu wählen, diese jedoch verfallen zu lassen. Sollten vor dem Zug eines Mitspielers zwei Anzeigen auf Rot stehen, wird das Spiel unterbrochen und es kommt zur Dividendenphase. In ihr erhalten die Anteilshalter für ihre Aktien je nach Einkommen der Gesellschaft und Anzahl ihrer im Umlauf befindlichen Wert-papiere eine Dividende von der Bank (!). Nach jeder Ausschüttung werden sämtliche Anzei-gen wieder auf ihren Ausgangspunkt zurückgestellt. Erreicht eine Gesellschaft Chicago, er-halten die an der Linie beteiligten Aktionäre außerhalb der Reihe eine Dividende (sog. Chica-go-Phase). Geschieht dies zum ersten Mal, wird die "Wabash" eröffnet und die erste von zwei Aktien dieser Gesellschaft versteigert. Diese Linie verfügt zwar über weniger Ausbaumög-lichkeiten und besitzt wegen ihrer späten Eröffnung begrenztes Kapital, doch liegt ihr Start-feld in unmittelbarer Nähe zu Chicago und anderen mehr oder weniger lukrativen Städten. Daher kann es sich auch hier lohnen, etwas höhere Summen zu investieren, da auf diese Wei-se der Handlungsspielraum für die "Wabash" erhöht wird. Doch gilt es, genau achtzugeben, denn die Schlussphase kann auf allein vier unterschiedliche Weisen eingeläutet werden. Das Spiel endet dann mit der nächsten Dividendenphase.

Anzeiger "Ein strategisches Spiel mit schnellem Einstieg und kurzer Spieldauer", verspricht der Text auf der Rückseite der Schachtel. Dieses Versprechen wird voll erfüllt. "Chicago Express" ist schnell gespielt und weist zugleich hohes strategisches Potential auf, das sich erst nach eini-gen Partien in seiner Bandbreite erschließt. Die Spieler müssen ihre Investitionen sorgfältig planen. Dies geht nicht ohne ein gewisses Maß an Kosten-Nutzen-Kalkulation, also Rechnen. Es ist unerlässlich, die Spielzüge der Konkurrenten, ihr Barvermögen, ein möglicherweise kurz bevorstehendes Spielende und die noch kommenden Dividenden im Auge zu behalten. Immense Summen in eine Gesellschaft zu stecken, ohne von ihren wachsenden Einkommen profitieren zu können, verbietet sich von selbst. Doch kann es sinnvoll sein, den Wert einer Linie möglichst früh zu steigern und somit auch andere Investoren anzulocken, mit denen dann befristet Allianzen eingegangen werden. Durch die Beteiligung von mehreren Spielern an einer Eisenbahnlinie verringert sich zwar die Dividende jedes Aktionärs, da das Einkom-men einer Gesellschaft bei der Ausschüttung jeweils durch alle im Spiel befindlichen Wertpa-piere dieser Farbe geteilt wird. Doch werden dadurch Ausbau und Entwicklung dieser Linie zu einem Gemeinschaftsprojekt, aus dem viele Nutzen ziehen. Auf diese Weise schont man sein Barvermögen, kann mit seinen wertvollen Aktionen besser haushalten und sie breiter streuen.

Die Versteigerungen sind der Schlüssel zum Erfolg. Mit ihnen kann man die Verteilung der Aktien gezielt steuern oder das Spielende hinauszögern, indem man die Aktion einfach verfal-len lässt. Im Unterschied zu anderen Investitionsspielen wie z. B. "Imperial" (Eggertspiele 2006) gibt es keine Trittbrettfahrer, die nach Übernahme der Aktienmehrheit eine Farbe voll-ständig kontrollieren. Vielmehr sind Kooperationen erwünscht, solange sie dem eigenen Vor-teil dienen. Diese Bündnisse auf Zeit können auch destruktiven Charakter annehmen, wenn Strecken über Wald- und Bergfelder andere Gesellschaften zu Umwegen zwingen oder einer dritten Partei durch bewusstes Verknappen der Versteigerungsaktion der Zugang zu einer be-stimmten Aktie verwehrt wird.

Ob der persönliche Geldvorrat verdeckt gehalten wird oder nicht, ist durch die Regel nicht vorgegeben. Bei Spielen mit Versteigerungsmechanismus ist eine Partie zu zweit naturgemäß weniger spannend, allerdings kann dies hier durch bewusstes Geheimhalten der eigenen Geld-reserven kompensiert werden. Doch gerade bei mehr als drei Spielern scheint es ratsam, dass alle ihre Barschaft offenlegen, um Unwägbarkeiten auszuschließen und Gedächtniskünstler nicht zu begünstigen.

"Chicago Express" ist ein ungewöhnliches Spiel. Selten habe ich nach der ersten oder zwei-ten Partie so ratlose Gesichter gesehen. Offensichtlich verlangt der Spielmechanismus ein Denken in Kategorien, das den hinlänglich bekannten Prinzipien von vielen strategischen Entwicklungsspielen widerspricht. Hier geht es nämlich nicht um ein geradliniges Umwan-deln von Geld oder Rohstoffen in Siegpunkte, sondern um das Kontrollieren komplexer Fak-toren, die kaum intuitiv zu erfassen sind. Einzelkämpfer haben hierbei nur selten eine Chance. "Teile und herrsche" heißt vielmehr die Devise. Um diese Zusammenhänge zu durchschauen, bedarf es schon einiger Spiele, doch in einer Runde von erfahrenen Tycoons ist eine äußerst abwechslungsreiche Kombination von Spieltiefe und Spielspaß garantiert, die es voll und ganz wert ist, Schritt für Schritt erschlossen zu werden. Für Wenigspieler ist der Zugang zu den Regeln wegen der sehr guten Spielanleitung recht einfach - ob sie jedoch die Geduld auf-bringen, die Feinheiten auszuloten, und ob sie die dazu notwendigen Kalkulationsprozesse nicht scheuen, sei dahingestellt. Für Strategen hingegen ist "Chicago Express" erfrischend anders und bietet reichlich Gelegenheit zu angeregten Diskussionen über das Spielsystem. Für mich ist es nicht nur aus diesem Grund das beste große Queen-Spiel der letzten Jahre. (thb)

Steckbrief
Chicago Express
Autoren Verlag Spieler Alter Spieldauer Gestaltung
Harry Wu Queen Games 2 - 6 Spieler ab 12 Jahre ca. 60 Minuten Michael Menzel